da waren wir ja fast im gleichen alter, als die mauer fiel. ich muss allerdings sagen, dass ich es nicht als besonders extrem oder als eine besonders einschneidende erfahrung in erinnerung habe. vielleicht lag es daran, dass wir eigenlich nur west-fernsehen gesehen haben und auch west-verwandschaft hatten. demzufolge hatte ich keine illusionen, was den westen anbelangt. es ist nicht alles gold, was glänzt - und es ist nicht alles schlecht, wo das etikett sozialismus draufklebte. leider wurde der osten vom westen untergebuttert und die ossis haben sich das im anfänglichen rausch gefallen lassen. nun gibt es eine beachtliche anzahl von leuten, die lieber den alten zustand zurück hätten - in ost wie in west. ich denke bei einer wohlüberlegteren annäherung, statt einem überstülpen von schema f, hätte sich die sache anders entwickelt.
letztendlich muss ich aber sagen, dass ich weder in ost noch in west so extreme äußerungen mir gegenüber erfahren habe. aber vielleicht hab ich auch einfach nur die filzbrille auf und die ohrstöpsel drin...wer weiß. manchmal sollte man vielleicht nach dem motto was ich nicht weiß..... leben.
für dich ist es allerdings schon schlimmer gewesen, denn wenn du eine sportlerhoffnung warst...ich bin ja sozusagen nur otto normal gewesen. tut mir leid, dass man dir deine karriere zerstört hat.
das ist offensichtlich, dass die Vereingung im Osten Deutschlands unterschiedlich erlebt worden ist. Ein wichtiger Teil der älteren Generation hat sicherlich darunter gelitten, wenn man es mild formulieren sollte. Die jüngere Generation, zu der unter anderem U30 (Maha) gehört hat, scheint damit keine Probleme zu haben. Ist es eine Art Fazit ?
ich stelle mir das alles ziemlich schwierig mit den Legitimitäten für Algerien vor. Als grundsätzliches Problem sehe ich jedoch das Thema mit der algerischen Identität. Über diese Frage habe ich viel nachgedacht ohne ein klares Bild zu bekommen.
Ich denke, dass die Kolonialzeit für Algerien in etwa vergleichbar mit dem Entzug der Eltern für ein Kind während seiner ersten Lebensjahre war. Wenn wir davon ausgehen, dass sich so etwas wie ein algerischer Staat oder Land (losgelöst von Tunis, Marokko) erst Anfang des 16 Jahrhunderts allmählich entstand, dann stellt sich mir die Frage, wie stark waren die Eltern, in dem Fall wie stark war die algerische Identität vor der Kolonialisierung? Was konnte diese vorkoloniale Generation der folgenden Generation mitgeben, was war an Identität da, was konnte an Identität gerettet und bewahrt werden oder wurde alles ausgelöscht?
Im Umgang mit Algeriern habe ich ein bisschen den Eindruck, als seien sie ein Volk, was plötzlich auf der Welt erschienen ist und verzweifelt seinen Platz sucht. Du hast gesagt: „Bei allem äusseren Stolz hat der Algerier kaum Anhaltspunkte für seine "Algerianité". Auf den Fremden wirkt dieser „äußere Stolz“ wie du es nennst manchmal etwas übertrieben und unverständlich. Ich denke, dass liegt an der Verletzlichkeit „dieses jungen pubertierenden Mannes“ wie du ihn nennst und hat so etwas wie eine Schutzfunktion. Oder sehe ich das falsch?
Kann es sein, dass dieses Identitätsproblem auch der Grund ist, der es Fremden (mit Fremden meine ich Fremde im wahrsten Sinne des Wortes) manchmal etwas schwer macht, sich mit Algeriern über schwierige oder auch kontroverse Themen zu unterhalten, insbesondere wenn es um solche Themen wie Algerien, Palästina, Religion usw. handelt? Ich hatte immer den Eindruck, dass man sich mit einem Araber aus dem Nahen Osten etwas entspannter über derartige Themen unterhalten kann. Diese Leute machten mir insgesamt einen gefestigten Eindruck und machten mir auch nicht den Eindruck, dass sie sich ständig verteidigen müssen.
„Ein Algerier, der sein "Dialekt" zum Beispiel spricht, entschuldigt sich fast dafür, wenn er mit einem Araber aus dem Orient, versucht sich zu unterhalten.“
Araber aus dem Orient sprechen doch auch ihren Dialekt oder ihre „3amiya“ wie sie es nennen.
„Er ist oft auf der Suche nach einem "Reinheitsgebot", das er schon längst hat, das aber noch nicht "legitimiert" ist.“
Kannst du bitte den letzten Satz etwas näher erklären? Beziehst du das nur auf die Sprache oder auf die gesamte Identität?
Wie groß ist die ethnische Minderheit wenn man alle zusammen zählt: Kabylen, Chaouia, Mzabi usw….?
Ich habe bestimmt noch Fragen, aber mir fällt es beim Thema Algerien immer schwer eine Struktur zu finden, deshalb soll es das für dieses Mal sein.
"sorry, dass ich mich dann auch mal einschalte: aber in meiner Generation (U30) spielt es eigentlich überhaupt keine Rolle mehr, in welchem Teil des Landes man sich zum Mauerfall aufhielt. Die End-Siebziger und Achtziger-Jahre Kinder können doch maximal auf eine Kindheit in einem anderen System zurück blicken. Irgendwann wächst halt demographisch das zusammen, was zusammen gehört."
Da gebe ich Dir völlig recht. Meine Kinder und deren Freunde haben da überhaupt keine Berührungsprobleme. Ich glaube, im Alltag interessiert das Eure Generation nicht mehr und ist im äußersten Fall von geschichtlichem Interesse. Oder irre ich mich da?
ich glaube, dass liegt daran, dass wir eben keine wirklichen persönlichen Erfahrungen mit den unterschiedlichen Lebenssituationen in Ost und West gemacht haben. Wenn Freunde von mir hier in Potsdam mal in der Schule Gruppenratsvorsitzender waren oder im Tischtenniskader der DDR, dann ist das ja mehr eine Anekdote aus ihrem Leben, weil sie den größeren Teil ihres Lebens in einem anderen System verbracht haben. Genauso erinnere ich mich daran im Westen halt Klassensprecher gewesen zu sein und statt bei den Jungen Pionieren war ich dann eben im Haus der Jugend oder im Spielkreis oder bei der AWO. Das ideologische der beiden Systeme ist zum größten Teil an uns vorbei gegangen und daher sind die 40 Jahre DDR-BRD, die für andere Generationen einen großen Teil ihres Lebens ausmachen und berechtigterweise auch z Identifikation geführt haben, für uns eben mehr eine Fußnote der Geschichte. Aber immerhin Geschichte, an der wir, wenn auch im geringen Anteil, noch selbst partizipiert haben. Für Kinder der Endachtziger wird es nochmal ganz anders sein.
Zuerst versetehe ich unter Legitimität auch Identität bzw. Identitäten, die die Algerier ausmachen.
„ Ich denke, dass die Kolonialzeit für Algerien in etwa vergleichbar mit dem Entzug der Eltern für ein Kind während seiner ersten Lebensjahre war. Wenn wir davon ausgehen, dass sich so etwas wie ein algerischer Staat oder Land (losgelöst von Tunis, Marokko) erst Anfang des 16 Jahrhunderts allmählich entstand, dann stellt sich mir die Frage, wie stark waren die Eltern, in dem Fall wie stark war die algerische Identität vor der Kolonialisierung? Was konnte diese vorkoloniale Generation der folgenden Generation mitgeben, was war an Identität da, was konnte an Identität gerettet und bewahrt werden oder wurde alles ausgelöscht?“
Bei dieser Aussage scheinen sich unsere Wege (Sichtweisen) zu trennen. Für mich eine Identität enthält auch die negativen Ereignisse und Erlebnisse eines Volkes im Laufe seiner Geschichte. Man kann nicht 130 Jahre ausklammern und nach einem idealen „Ausgangspunkt“ einer Identität suchen. Daher auch der Grund für die Benutzung des Begriffs „Reinheitsgebot“.
„ Auf den Fremden wirkt dieser „äußere Stolz“ wie du es nennst manchmal etwas übertrieben und unverständlich. Ich denke, dass liegt an der Verletzlichkeit „dieses jungen pubertierenden Mannes“ wie du ihn nennst und hat so etwas wie eine Schutzfunktion. Oder sehe ich das falsch? “
Mit der Schutfunktion siehst du es richtig aber es enthält mehr. Die Algerier wurden nach dem Befreiungskrieg weiter zu Revolutionären politisch erzogen. Das heisst unter andrem durch die Verherrlichung der Gewalt als Instrument, zu seinen Rechten zu kommen. Interessanterweise fast das Gegenteil von Deutschland. Plötzlich werden sie zu den unerschrockenen Ritter der arabischen Welt „geblasen“.
Der Stolz der Algerier stammt definitiv aus dieser Zeit. Zu viel Stolz, folglich zu viel Emotionalität, was oft jede Rationalität im Keim erstickt. Was sicherlich häufig zu einer Schwierigkeit führt, wie du das festgestellt hast, sich mit denen zu unterhalten. Die „Politiker“ in Algerien haben es verpasst nach dem Befreiungskrieg, Politiker an die Macht zu bringen. Krieger führten das Land, Krieger deren Aufgaben längst erledigt waren. Die echten wenigen algerischen Politiker wurden teilweise von ihren ehemaligen Brüdern (kurz vor oder nach der Unabhängigkeit) eliminiert oder verbannt. Vor allem auf die Politik der Krieger, ist die übertriebene rebellische Erziehung zurückzuführen. Diesen Kriegern, denen das Land sicherlich viel zu verdanken hat, konnten ihren Elan nicht bremsen und haben einen Beruf nach dem Krieg ausgeübt, wofür sie gar nicht ausgebildet waren. Pädagogisch gesehen verursachten sie (aus meiner Sicht) eine Fehlerziehung, die nicht kompatibel mit der Friedenszeit war.
„ Ich hatte immer den Eindruck, dass man sich mit einem Araber aus dem Nahen Osten etwas entspannter über derartige Themen unterhalten kann. Diese Leute machten mir insgesamt einen gefestigten Eindruck und machten mir auch nicht den Eindruck, dass sie sich ständig verteidigen müssen. „
Das ist definiv, auch aus meiner Sicht, richtig, die Feststellung habe ich öfter gemacht. Das mit dem algerischen Dialekt nun. Ich versuche es an ein kleines Beispiel. In den sechziger und siebziger Jahren lief zum Beispiel regelmässig im einzigen algerischen Fernsehsender eine Sendung, deren einzige Aufgabe war, den Algeriern zu sagen, dass sie falsch sprechen. Es lief ungefähr so: Sagen sie nicht mehr z.B. „Tabla“(Tisch), sagen sie „Maaida“, sagen sie nicht mehr „Kuzina“ (Küche) stammt übrigens vom Spanischen, sagen sie „Matbakh“, sagen sie nicht mehr „Bola“ Ball, sagen sie „Kora“ usw. Nun versuche ich zu verstehen, wie psychologisch solche „Erziehungmassnahmen“ im sprachlichen Bereich sich auf ein Volk auswirken. Sogar wie es spricht, ist es falsch ! Was für ein Selbstbewusstsein soll bei den Menschen entstehen. Sie sollen nach einem „Reinheitsgebot“ neu erzogen werden. Die Sprache ist das erste Element der Identität eines Volkes. Aus algerischer Sicht sollte die „Beschmutzung“ der Sprache unter anderem durch die Sprache der Kolonialherren, entfernt werden. Auf jeden Fall wurde diese Entscheidung sicher nicht von Linguisten, Pädagogen oder Fachleuten getroffen. Das erinnert mich, natürlich nur teiweise und im Ansatz, an die kulturelle Revolution, die Mao in China versucht hatte. Der beste Beweis, dass eine Identität fehlt, ist dass man sie ständig sucht. Was die ethnische Minderheiten angeht. Es ist kontraproduktiv und geschichtlich gesehen falsch von ethnischen Minderheiten in Algerien zu sprechen. Es geht eher inzwischen um „sprachliche“ Minderheiten. Sie stellen etwa 20 % der gesamten Bewölkerung dar. Wenn man bedenkt, dass die Bewölkerung von Algier z. B. „ethnisch“ gesehen in einer Mehrheit aus der Kabylie stammt. Macht es wenig Sinn von etnischen Gruppen in Algerien zu reden. Eine starke Vermischung wie überall in der Welt hat hier auch stattgefunden.
Nein, ich bin nicht der Meinung, dass man negative historische Ereignisse bzw. Erlebnisse eines Volkes ausklammern sollte bzw. kann. Ich hatte nur den Eindruck, dass man das in Algerien gern möchte.
In Gesprächen habe ich manchmal gehört, dass die „algerische Identität“ von den Franzosen ausgelöscht wurde, dass außer dem Islam nichts übrig blieb, da ihnen selbst die Sprache genommen wurde. Hier stellt sich mir die Frage, wer die Algerier eigentlich sind und hier komme ich wieder zu dem Punkt, welche Identität hatten die Algerier vor der Kolonialisation, gab es damals überhaupt so etwas wie eine algerische Identität oder fühlten sich die Menschen doch eher Tunis, Fès, Algier oder anderen Gebieten zugehörig.?
Ich habe ein algerisches Geschichtsbuch, welches ausführlich die Anfänge des Islams schildert, dann nach einer kurzen Beschreibung der Zeit um Oqba Ibn Nafa springt es plötzlich zu Emir Abdelkader, schließlich zum Befreiungskampf und den Errungenschaften nach der Kolonialisierung.
Wenn ich versuche Algerien zu verstehen, drehe ich mich immer wieder im Kreis und habe den Eindruck, der algerische Mensch wurde urplötzlich mit der Indépendance bzw. mit dem Befreiungskrieg auf die Erde katapultiert. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, dass man mit einem „halben Fuß“ in Europa steht und mit „1,5 in Algerien“, sich aber gleichzeitig vor jeglichem Einfluss bewahren möchte und als fremd von sich weist.
Deine Erklärung über die algerischen Krieger weckt bei mir die Vermutung, dass es keinen wirklichen Versuch gab die Geschichte aufzuarbeiten, ihr Versuch den „neuen algerischen Menschen“ zu kreieren, hat meiner Meinung nach einen großen Anteil daran, dass die Menschen auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind.
Warum wurden eigentlich die algerischen Zivilpolitiker (Mitglieder der damaligen Exilregierung) vom Militär ausgeschaltet?
„Nun versuche ich zu verstehen, wie psychologisch solche „Erziehungsmassnahmen“ im sprachlichen Bereich sich auf ein Volk auswirken“
Wenn man einem Menschen oft genug sagt, dass er nichts kann, dann fühlt er sich irgendwann tatsächlich minderwertig, die Auswirkungen auf ein gesamtes Volk bezogen, muss vergleichsweise schwerwiegender sein. Diese Fernsehsendungen stelle ich mir auch eher schädlich, als geeignet vor. Unter anderen Vorraussetzungen hätte man sie vielleicht als Satire gelten lassen können.
Mir drängt sich hier die Frage zum Programm der „Arabisierung“ auf. Was ist da falsch gelaufen, hätte es eine andere Alternative gegeben?
was kann man von einer Nation erwarten, die ihre Wurzeln und ihre Geschichte verleugnet. Die Geschichte macht das System und zwar nach Maß. Daher kennt der Algerier seine eigene Geschichte nicht. Er ist der "Bastarde". Er ist kein 100-prozentiger Berber, kein 100-prozentiger Araber und kein 100-prozentiger Franzose. Das System hat mit Absicht viele Kapitel in der Geschichte ausgelassen. Sachen, die es stören darunter das Berbertum von Nordafrika. Ich möchte auch auf die Legitimität hinweisen. Die Volksarmee hat die Unabhängigkeit erlangt, sie wird für immer Algerien regieren. Daher auch die Ausschaltung von Gegenern, die der Armee nicht angehören; Abane Ramdan, Krim Belkacem u.a. Normalerweise machen die Zivilpolitiker Politik und die Armee ihre Arbeit! Die Armee hat seit 1954 die Oberhand in Algerien. Jeder Versuch, dies zu bestreiten, könnte tragisch enden.
Wenn man die jüngste Geschichte Algeriens näher betrachtet, dann stellt man fest, dass zum Beispiel das Kapitel Benbella (62-65) völlig ausgelöscht wurde. Der Präsident selbst sagte in einer Rede: "Wir sind Araber!" Geschichte für Algerier ist Tabu. Algerier würden kein Gespräch über Geschichte führen. Man ist allergisch gegen "Tatsachen" Sobald man eine ausspricht, geht die Hölle los.
Es ist sicher schwierig nun diese Geschichte systematisch zu behandeln. Ich probiere trotzdem unter Berücksichtigung der Punkte, die du erwähnt hast, meine Sichtweise zu äussern. Die Franzosen "landeten" in Algerien in einer Zeit, wo sie die Welt hauptsächlich mit den Engändern teilen wollten. Sie nannten ihr Vorhaben "Mission civilisatrice". Das heisst, sie wollte "Fortschritt" nach Algerien bringen. 1962 bei der Unanhängigkeit Algeriens gab ca. 85% Analphabeten (Algerier) in Algerien. Das ist der Fazit der "Mission Civilisatrice". Algerien war 1830 sicherlich kein modernes Land und relativ dünn besiedelt im Vergeich zu Europa. Algier war damals die grösste Stadt mit ca. 30 000 Einwohner wohl gemerkt. Ob die algerische Identität durch die Franzosen ausgelöscht wurde, glaube ich eher nicht. Die Algerier wurden enteignet und ausgenutzt. Ihre Identität hat aus meiner Sicht die Franzosen gar nicht interessiert. Sie durften ihre Sprache sprechen und ihre Religion ausüben. Nun hat sich mit der Zeit eine Mischsprache entwickelt. Man muss ja wissen, dass zwischen 1830 und dem Ende desselben Jahrhunderts mehr andere Europäer nach Algerien kamen als Franzosen. Übrigens Deutsche waren auch dabei. Frankreich war gar nicht daran interessiert, dass die "Indigènes" eine französische Bildung erhalten. Mehr Bildung bedeutet mehr Rechte, die Kolonialmacht wollte definiv dies nicht. Sie sah ja die Algerier als Untermenschen. Ich habe selber hier in Deutschland Bücher von französichen Historikern (von der ersten Hälfte des 20. Jh.) gelesen, über die Algerier (Indigènes) wurde dort geschrieben, als würde es sich um Tiere handeln. Sogar die Tierschützer heute würden beleidigt sein, wenn sie so etwas lesen würden. Ob es vor der Kolonisierung eine algerische Identität gab ? Es gab algerische Identitäten. Das es damals um kleine "Inseln" ging, die aber alle ihre Wertesysteme hatten.
Die algerischen Geschichtsbücher sind sehr oft bewusst lückenhaft. Über die Gründe möchte ich nun nicht eingehen.
" Wenn ich versuche Algerien zu verstehen, drehe ich mich immer wieder im Kreis und habe den Eindruck, der algerische Mensch wurde urplötzlich mit der Indépendance bzw. mit dem Befreiungskrieg auf die Erde katapultiert. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, dass man mit einem „halben Fuß“ in Europa steht und mit „1,5 in Algerien“, sich aber gleichzeitig vor jeglichem Einfluss bewahren möchte und als fremd von sich weist." Deine Fragestellung ist begründet und entpricht dem, was ich versuche zu beschreiben.
Die Geschichte Algeriens ist, ohne Zweifel, noch nicht aufgearbeitet worden. Es gib bis heute nur eine künstlich "politisierte" Geschichte in Algerien.
" Warum wurden eigentlich die algerischen Zivilpolitiker (Mitglieder der damaligen Exilregierung) vom Militär ausgeschaltet? " Unter anderem, damit die verschiedenen Strömungen der Gesellschaft und die verschiedenen bereits angesprochenen Identitäten nicht zu Wort kommen können. Ein Militär tut sich z. B. schwer mit mehreren Identitäten bzw. Loyalitäten. Einparteisystem ist einfacher gewesen. Natürlich gibt mehr Elemente, die eine Rolle spiele. Ich versuche nun ein bisschen zu vereinfachen.
Die Arabisierung: Zuerst möchte vorweg schicken. Ich finde, dass arabisch eine wunderschöne Sprache ist. Die Art und Weise, wie die sogenannte Arabisierung in Algerien stattgefunden hat, ist aus meiner Sicht ein "pädagogisches Massaker". Dafür muss ich sicher erstmal tief Luft holen, bevor ich damit anfange, bzw. ich brauche eine Pause. Die Alternative, wonach du gefragt hast, ist unter anderem Algerisch. Das wäre eine Synthese zwischen dem arabischen und seiner "Geschichte" bzw. Entwicklung in Nordafrika. Die meisten Algerier tun sich mit dieser Vortellung schwer, sehr schwer !
Da Bavarois sich eingemischt hat, wirst du nun mit Stellungnahmen "verwöhnt" sein. Ob deine Fragen aber damit beantwortet werden, ist es eine andere Geschichte. Die Arabisierung kam plötzlich Anfang der siebziger Jahren nach Algerien fast parallel zu einigen politischen Konflikten zwischen etlichen arabischen Ländern und einigen westlichen Mächten. Ich habe selbst die Arabisierung als Kind wie ein Nacht und Nebelaktion erlebt. Von einer Minute auf die andere holte Algerien tausende von Lehrern aus dem Orient (Irak, Syrien, Egypten usw.) Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir alle Fächer auf französisch gelehrt bekommen. Arabisch war ein Fach unter anderem, das (bis heute übrigens) mit der Didaktik einer Fremdsprache gelehrt worden ist. Plötzlich wurden wir (Schüler) nach willkürlichen Maßstäben in zwei grosse Gruppen geteilt. Sie hießen: "arabisé" und "Billingue", wobei billingue bedeutete alle Fächer auf Französisch, ausser Geschichte und natürlich arabisch. Ich wurde (im siebten Schuljahr) "arabisiert", das heisst bei Lehrern gelandet, die kein Wort französisch konnten und am Anfang kaum Lehrmaterial (wie Bücher) dabei gehabt hatten. Das bedeutete u. a. alle bisher gelernten Fachausdrücke in allen Fächern sollten nun übersetzt werden, ohne Übersetzer. Nach der Übersetzungszeit, die lange dauerte, merkten wir, dass wir mit Menschen zu tun hatten, die nicht nur Wissen mitbrachten sondern teilweise andere Werte. Sie vermittelten uns aber auch manchmal das Gefühl einer Minderwertigkeit, ein bisschen unter dem Motto "die Armen algerischen Kinder, sie werden es nie packen arabisch zu lernen". Ich kann mich gut erinnern kein Schüler in meinen verschieden Klassen konnte bis zum Abitur drei korrekte Sätze aufeinander mündlich auf hocharabisch ausdrücken. Ich spreche hier von einem der grössten Gymnasien in Algier. Die meisten orientalischen Lehrer fanden uns einfach unfähig "arabisch" zu sprechen. Schreiben dagegen ging viel besser, da wir Zeit hatten. Während dieser Zeit lachten sich die "Billingue" meistens Tod über uns. Eine weitere Trennung fand durch dieses improvisierte Schulsystem statt. Denn etwas steht fest, die "Billingue" haben später nicht nur die besseren Erfolgsquoten in der Schule und an der Uni gehabt sondern auch die deutlich besseren Perspektiven in der Arbeitswelt später bekommen. Der spätere " Bruderkrieg" hat, aus meiner Sicht, auch eine "sprachliche" Dimension, die sich auf dieses "Schulsystem" bezieht. Dies ist eine weitere "Anomalie" des "Sturm und Drangs" der algerischen Politik.
Jetzt musste ich aber erst einmal den Atem anhalten!!!
Algerisch als Alternative für Arabisch??? Diese Vorstellung fällt selbst mir schwer, d. h. grundsätzlich könnte ich mir Algerisch schon als eigenständige Sprache vorstellen
Ich weiß nicht, in wie weit Linguisten den oder die algerischen Dialekte erforscht haben. Man benötigt eine einheitliche Grammatik, welcher Dialekt sollte als Standardsprache gelten, welches Alphabet usw…… Wie bereits erwähnt vom rein sprachlichen Aspekt kann ich mir das vorstellen. Es gibt ja auch Maltesisch, eine Sprache die im maghrebinischen Arabisch ihren Ursprung hatte und mit lateinischen Buchstaben geschrieben wird.
Ich versuche mir vorzustellen, welche psychologischen, als auch politischen Konsequenzen das haben könnte.
Ich stelle es mir weniger dramatisch vor, wenn ab heute der schweizer Dialekt als eigenständige Sprache gelten würde. Die Schweizer haben sich nie als Deutsche betrachtet. Ich denke aber, dass ein Großteil der algerischen Bevölkerung sich als Araber betrachtet.
An die zwei Gruppen im algerischen Schulsystem kann ich mich auch noch erinnern. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie dramatisch das war und vielleicht auch noch ist. Bei Verwandten ist mir aufgefallen, dass die ältere Generation sehr gut Französisch schreibt, auch diejenigen, die kein Abitur haben. Bei den sogenannten „arabisé“ hatte ich manchmal den Eindruck, dass das Niveau in beiden Sprachen nicht sehr gut ist.
(In anderen arabischen Ländern gibt es aber auch ein Problem mit der arabischen Sprache vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich.)
Der Bericht von Bavarois machte auf mich einen etwas traurigen und resignierten Eindruck.
Ich hoffe, dass ich mit meinen Fragen niemanden zu sehr belastet habe.
Für heute will ich es hierbei belassen, denn ich muss das Gelesene selbst erst einmal einordnen.
möglicherweise hast du etwas falsch verstanden. Meine Formulierungen waren vielleicht nicht deutlich genug. Es geht, was die Sprache angeht, nicht um das Ersetzen, sondern um das Ergänzen, wenn überhaupt von Ergänzung die Rede sein darf. Die Egypter beispielsweise haben schon längst damit angefangen ihr Dialekt in die arabische Sprache zu integrieren. Interessant dabei ist, dass sie es als arabisch in der ganzen "arabischen" Welt verkaufen. Algerisch als Dialekt bezieht sich hauptsächlich auf den lebenspraktischen Bereich. Es ist sicherlich nicht die Welt. Eine Sprache existiert ab den Zeitpunkt, wo sie gesprochen wird. Warum eine neue Grammatik ? Die Türken haben möglichweise eine neue Grammatik gebraucht, als sie auf die arabische Schrift verzichtet haben und sich aus politischen Gründen die lateinischen Buchstaben anwenden wollten. Sie haben aber auf ihre Sprache nicht verzichtet. Wenn man jemand fragt, ob er ein Auto braucht, heisst es nicht, dass er selbst das Fahrzeug herstellen muss. Viele Algerier sehen sich oft als potentieller Hersteller, was ihre Vorstellungskraft deutlich bremst, wenn es um die Sprache geht. Übrigens ich rede nicht von Tamazight, die was ganz anderes ist.
" Bei Verwandten ist mir aufgefallen, dass die ältere Generation sehr gut Französisch schreibt, auch diejenigen, die kein Abitur haben. Bei den sogenannten „arabisé“ hatte ich manchmal den Eindruck, dass das Niveau in beiden Sprachen nicht sehr gut ist."
Was du bei deinen Verwandten festgestellt hast, ist absolut richtig und du bist sehr tolerant, wenn du sagst, "nicht sehr gut". Es ist gar nichts. Das Niveau ist katastrophal. (Entschuldigung für die Deutlichkeit). Das untersuche ich bewusst jedes Jahr in Algerien. Leider gibt es da keine "Pisa-Studie" in diesem Raum. Bavarois wollte sicherlich von der Kabylie sprechen. Ich kann seine Resignation verstehen. Da ist es extremer. Deine Fragen sind übrigens nicht belastend, sie erlauben mir meine Meinung über bestimmte Entwicklungen in Algerien zu äussern. Was ich gern tue.
ich kann nur bestätigen, was Kabyle gesagt hat: Ich war unter den "Versuchskaninchen" der Arabisierung. Ich musste es auch teuer zahlen. Noch eine Strafe: Deutsch statt Englisch in der Schule. Man hatte damals keine Wahl. Ich gehöre daher zur Minderheit, die Deutsch als Fremdsprache in der Schule gehabt hat und die zum größten Teil nach Deutschland kam. Es gab eine Zeit lang ein Rückgang der französischen Sprache in der Schule. Hocharabisch stellte und stellt immer eine gewisse Hürde für den Algerier dar. Ich glaube, das ist ganz normal nach 132 Jahren Kolonie. Es war so, dass man diese Schüler dann als "zweisprachige Analphabeten" bezeichnete, weil sie weder Arabisch noch Französisch beherrschten. Jetzt beherrschen die Schüler besser Arabisch.
Was das Ägyptische anbelangt, man denkt sogar hier in Europa, das das Ägyptische das richtige "ARABISCH" sei. Näher betrachtet ist auch das Ägyptische ein Kauderwelsch genau so wie das Algerische. Es beinhaltet viele türkische und ausländische Entlehnungen trotzdem versuchen die Ägypter, ihre Sprache als die "reinste" Sprache darzustellen und den Algeriern vorwerfen, warum unsere Sprache so sei. Diese Leute ignorieren, dass, trotz 132 Jahre, die Algerier ihre Persönlichkeit, ihre Sprache und ihre Kultur nicht verloren haben. Ich gehe sogar weiter: Wir versuchen und bemühen uns immer, das richtige Arabisch (Hocharabisch) zu sprechen. Das ist aber nicht der Fall bei den Anderen. Ich habe auch entdeckt, dass manche Wörter, die wir in Algerien benutzen, rein Arabisch sind aber sie werden im Orient nicht verstanden.
anliegend eine Interview von Werner Ruf Prof. für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik über Algerien.
möglicherweise verstehe ich immer noch etwas falsch. Ich hatte folgende Frage gestellt:
"Mir drängt sich hier die Frage zum Programm der „Arabisierung“ auf. Was ist da falsch gelaufen, hätte es eine andere Alternative gegeben?!"
Als Alternative hattest Du "Algerisch". Wenn ich in Algerien alternativ zum "MSA" nun "Algerisch" unterrichte, dann heißt das doch "Algerisch" statt "MSA". Oder? An Tamazight habe ich auch nicht gedacht.
Vielleicht müssen wir erst einmal definieren, was für dich "Algerisch" ist. Es kann ja sein, dass wir das gleiche Wort verwenden und doch etwas anderes meinen.
Ich habe nicht von einer "neuen Grammatik" gesprochen. Ich habe von einer "einheitlichen Grammatik" gesprochen, da ich davon ausging, dass du unter "Algerisch" den algerischen Dialekt meinst. Sofern ich das beurteilen kann, gibt es Unterschiede zwischen Nord, Süd, Ost und West usw. Sprachen entwickeln sich im Laufe des Lebens, Grammatiker machen in der Regel nichts anders als die bestehende Sprache zu analysieren und sozusagen nachträglich Regeln zu finden bzw. etwas als Ausnahme zu bezeichnent. Wenn man "Algerisch" unterrichten möchte, dann muss man sich doch darüber meiner Meinung nach Gedanken machen oder will man in jedem Ort etwas anderes unterrichten??
Ich hatte den Eindruck, dass die Ägypter ihren Dialekt oder Elemente aus Ihrem Dialekt allmählich integriert haben. Die Grammatik aus MSA bleibt aber weitgehend erhalten. Ich meine damit, dass man nicht soweit geht "ma fischu" oder "ma schuftsch" usw. in der geschriebenen Sprache als "Arabisch" zu verkaufen.
"Was du bei deinen Verwandten festgestellt hast, ist absolut richtig und du bist sehr tolerant, wenn du sagst, "nicht sehr gut".
Ich bin mir manchmal nicht ganz sicher, wieviel Kritik steht mir als "Nichtalgerier" überhaupt zu. Im Freundeskreis oder Verwandtenkreis bin ich auch deutlicher.
also wenn ein Deutscher oder ein Ausländer anfängt "MSA" zu lernen, dann versteht er einen Ägypter genau so wenig wie einen Algerier. Das zeigt doch schon, dass es auch kein reines "Hocharabisch" ist. Aber woher soll das ein Europäer wissen, wenn es er nicht selbst die Erfahrung macht?
"Ich war unter den "Versuchskaninchen" der Arabisierung."
Dafür warst du aber sehr vernünftig und fleißig und hast es trotzdem gelernt und trotz der Strafe Deutsch zu lernen, war auch das sehr erfolgreich.
Mit dem Zwang eine Sprache zu lernen, hatten wir in der ehemaligen "DDR" auch genügend Erfahrung. Russisch war damals die erste Fremdsprache, eine Wahl hatten wir nicht. Als zweite Fremdsprache hatte ich dann aus Protest "Französisch" gewählt, nur um nicht wie alle Englisch zu lernen und endlich mal eine eigene Entscheidung treffen zu können. Über diese Entscheidung bin ich heute noch froh.