Von Oliver Meiler, Marseille
Ist nach Tunis und Kairo bald Algier dran? Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen – und vielleicht noch bessere dagegen.
Die Generäle hatten immer genügend Geld, um sich selber zu bereichern und sich den sozialen Frieden zu erkaufen: Aus Algeriens Boden werden jährlich Erdöl und Erdgas im Wert von Milliarden gewonnen.
ngekündigt ist ein «Tag des Zorns» – ein friedlicher, aber revolutionärer Marsch durch das Zentrum von Algier. Am 12. Februar – vom Platz des 1. Mai zum Platz der Märtyrer. Es ist zu hoffen, dass der Zielort kein böses Omen ist. Die Veranstaltung für «Wandel und Demokratie» ist nämlich verboten, wie alle politischen Kundgebungen seit vielen Jahren verboten sind. Mobilisiert wird im Internet, vor allem auf Facebook, dem Motor moderner Bürgerrevolten. Die populärsten Profile im sozialen Netzwerk heissen «Barakat» (Es reicht!) oder «Bezzzef» (Gennnug!).
Erwartet werden Zehntausende – auf beiden Seiten. Die Regierung wird so viele Sicherheitsleute abstellen, dass sie am Ende wohl zahlreicher sein werden als die Demonstranten. So war es bisher immer. In der Regel enden solche Machtproben auf der Strasse blutig und immer mit demselben Sieger.
Korrupte Machtclans
Doch nun bröckeln in der arabischen Welt viele Gewissheiten. Die Aufstände in Tunesien und in Ägypten machen vielen Unterdrückten Mut. Algerien wird oft genannt, wenn es gilt, Dominosteine zu benennen, die ebenfalls fallen könnten. Tatsächlich gibt es Parallelen: Auch in Algerien herrschen seit der Unabhängigkeit 1962 korrupte Machtclans, die die Reichtümer des Landes plündern und das Volk kleinhalten. Auch in Algerien erhebt sich eine ernüchterte, oft arbeitslose Jugend gegen ihre Perspektivenlosigkeit und gegen die Arroganz der Macht. Doch es gibt auch Unterschiede. Und vielleicht sind sie gar so gross, dass der arabische Frühling Algier nicht erfassen wird. Der wichtigste Unterschied vorab: Die algerische Armee kann sich nicht auf die Seite des Volks schlagen, wie das die tunesische und ägyptische taten. In Algerien ist die Armee der Staat, das System, die Wirtschaft – alles liegt in der Hand der Generäle.
Genug Geld, aber unfair verteilt
Gegen die «décideurs», die Entscheidungsträger, wie sie in Algerien genannt werden, richtet sich aller Frust und Zorn. Als Präsident dient zwar seit 1999 ein Zivilist, der nunmehr 73-jährige, kranke Abdelaziz Bouteflika. Doch ihn haben sich die Militärs nur deshalb ausgesucht, weil er ihnen den Fortbestand ihres Regimes garantierte. Im Hintergrund zieht der Chef des militärischen Geheimdienstes, Mohammed Mediène, alle Fäden – diskret, ohne Bilder, ohne Auftritte. Ein Abgang von «Boutef» wäre zwar ein Triumph für die Aufständischen, doch das System würde Bouteflika wohl überleben.
Der zweite Unterschied liegt in Algeriens Boden vergraben, aus dem jährlich Erdöl und Erdgas im Wert von Milliarden gewonnen werden. Sie machen das Land so reich, dass es locker ausreichen sollte für den Wohlstand eines Volks von 34 Millionen, für ein würdevolles Leben für alle Algerier. Nur: Wohin genau flossen die ungeheuren Summen? Kürzlich richtete die Regierung aus, sie habe fast alle Auslandschulden tilgen können, was im Westen für Applaus sorgte. Algerien hat nun Devisenreserven von über 150 Milliarden Dollar.
Immer grössere Ambitionen
Die Generäle hatten also immer genügend Geld, um sich selber zu bereichern und sich den sozialen Frieden zu erkaufen. Wenn der Groll im Volk gefährlich wurde, verteilten sie immer ein bisschen was, vergaben schnell Subventionen, senkten die Steuern und die Preise für Nahrungsmittel. Seit einigen Jahren investiert das Regime zudem Milliarden in den sozialen Wohnungsbau, in die Infrastruktur und neue Arbeitsplätze. Das Regime ist also breiter abgestützt als etwa das tunesische, das alles für sich nahm.
Doch die Programme reichen nicht mehr aus: Die algerische Bevölkerung wächst, ihre Ambitionen sind grösser geworden. Im Volk herrscht das Gefühl vor, die kolossalen Einnahmen aus dem natürlichen Reichtum würden nicht gerecht verteilt. 97 Prozent der Wirtschaftskraft bezieht Algerien mittlerweile aus dem Ölverkauf. Völlig vernachlässigt wurden dagegen Industrie und Landwirtschaft. Darum muss nun vieles importiert werden – zu Preisen, die anderswo bestimmt werden.
Aufstand hat bereits begonnen
Als vor einigen Wochen die Preise für Brot, Speiseöl und Zucker in die Höhe schnellten, gingen in Algerien Tausende auf die Strassen. In Algier kam es zu Strassenschlachten. Fünf Menschen starben. Das Regime spielte den Aufstand von meist arbeitslosen Jugendlichen zunächst herunter. Dabei waren die Proteste keine Hungersrevolte, sondern der Versuch eines politischen Aufstands nach tunesischem Vorbild. Der Unmut richtete sich gegen den Staat und seine Institutionen. Ämter wurden geplündert und angezündet. Die Polizei schritt heftig ein, um die Unruhen zu stoppen. Dann kündigte die Regierung wieder einmal eine Reihe von Subventionen an, um die Gemüter zu besänftigen.
Bouteflika schwieg lange. Auch zum Umsturz in Tunesien mochte er sich während Wochen nicht äussern. Erst vor einigen Tagen, als auch das ägyptische Regime unter dem Druck der Strasse zu zittern begann, zeigte er sich plötzlich besorgt. Der Präsident machte Konzessionen, wie man sie von ihm nicht erwartet hatte. Als wollte er eine aufziehende Gefahr präventiv bannen. «In naher Zukunft», versprach Bouteflika letzte Woche, werde der Ausnahmezustand aufgehoben. Ausser in Algier soll bald überall im Land demonstriert werden dürfen. Das klingt unspektakulär, riecht nach einem taktischen Eingeständnis und nicht nach einer politischen Öffnung. Dennoch ist es eine historische Ankündigung: Algerien steht seit 1992 unter Notrecht – seit dem Beginn der Wirren mit den Islamisten des Front Islamique du Salut (FIS), die in einen zehn Jahre langen bürgerkriegsähnlichen Konflikt mit 150'000 Todesopfern ausarten sollten.
Auch diese dramatische Erfahrung mit politischer Gewalt unterscheidet die Algerier von den Nachbarn in der Region. Sie ist noch frisch, sie wirkt noch nach. Sie zeigte auch, wie konsequent das Regime gegen seine Gegner vorgeht. Und so künden auf Facebook zwar viele Algerier ihre Teilnahme am «Tag des Zorns», dem 12. Februar, an. Doch so manche werden wahrscheinlich aus Furcht vor der harten Repression aber doch zu Hause bleiben.
(Tages-Anzeiger) (Schweiz)