Drei Frauen in der Hölle
Von Niklas Maak
Algerische Migranten hausen seit Generationen in Betonriegeln französischer Vorstädte. Ein Dokumentarfilm im Bayerischen Rundfunk zeigt heute Abend, was in der Pariser Banlieue wirklich passiert - und wie gut laut "Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung" Fernsehen sein kann.
Man dachte ja noch vor ein paar Tagen, das war es jetzt, jetzt hat das Fernsehen seinen absoluten Tiefpunkt erreicht, jetzt können wir den Flachbildschirm für immer hinter die Spülmaschine schieben - aber pünktlich zum Ende der Eva-Herman-Skandalwoche rettet der Bayerische Rundfunk den Ruf des Fernsehens dann doch noch mit einer Dokumentation, wie man sie leider kaum noch zu sehen bekommt. Der Film heißt "Und die Liebe kommt später", was erst mal rosamundepilcherhaft klingt - aber was man dann zu sehen bekommt, ist so monströs, dass jeder Gedanke an das übliche Gefühlsgedöns des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das mit solchen Titeln und den entsprechenden Storys (junge, patente Biologiestudentin trifft älteren, verbitterten Kapitän etc.) die besten Sendeplätze verrammelt, in Stücke fällt.
Der Film würde besser "Die Hölle" heißen. Er handelt von drei Frauen, drei Generationen algerischer Einwanderer in Frankreich - aber das klingt viel harmloser als das, was dieser packende Film zeigt und schafft: zu erklären, was eigentlich in den Vorstädten passiert ist, wie es so weit kommen konnte; warum der Westen mit der islamischen Welt und die Stadtgesellschaften mit ihren Migranten dort stehen, wo sie stehen, nämlich an einem Abgrund, den sie selbst mit ausgeschaufelt haben.
Der Film beginnt: Man hört arabische Musik, man sieht die grauen Wohnregale einer Pariser Vorstadt mit dem schönen Namen Clichy-sous-Bois, die besser Clichy-sous-Béton heißen müsste, und man wundert sich, ob diese Aufnahmen wirklich nur ein paar Kilometer von den Champs-Élysées entfernt gemacht wurden oder vielleicht doch in Lagos oder Monrovia. Dann sieht man in dieser Dritten Welt mitten in der Ersten eine alte Frau sitzen; sie ist 86, heißt Yamina und trägt ein Kopftuch, sie lebt seit über einem halben Jahrhundert in Paris, aber sie spricht kaum Französisch. Der Film erzählt ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Tochter Aicha und die ihrer Enkelin, die auch Yamina heißt, und es sind keine schönen Geschichten.
Aicha wurde 1957 in Frankreich geboren, sie ist eines von sieben Kindern. Drei Jahre zuvor, 1954, war Yamina mit ihrem Mann Slimane aus dem algerischen Dorf Ouled-Ali nach Paris gekommen. Man sieht auch das Dorf in diesem Film, ein paar fensterlose Bauten in einer karstigen, dürren Gegend, hier und da ragen aus der roten Erde ein paar Pflanzen heraus, die sich weigern, zu sterben. Sie hatten damals, erzählt Yamina, die Alte, nichts mehr zu essen, die Äcker trugen nicht mehr, und in Paris konnte Slimane bei dem Autohersteller Simca arbeiten, Stoßstangen an elegante Mittelklasse-Coupés anschrauben, die wie rollende Buttercremetorten aus Blech aussahen.
Es waren fast nur Nordafrikaner, die in den Autofabriken arbeiteten, allein 1954 holten die Franzosen 200.000 billige Arbeitskräfte aus Algerien und Marokko. Die meisten von ihnen lebten in sogenannten Bidonvilles, Blechstädten; in einer der provisorischen Hütten waren bis zu acht Arbeiter untergebracht. In den sechziger Jahren wurden sie dann in die berüchtigten Betonsilos jener Vorstädte umquartiert, in die sich heute nicht mal mehr die Polizei traut und in denen vor zwei Jahren, als zwei junge arabischstämmige Männer bei einer Verfolgungsjagd zu Tode kamen, die schwersten Krawalle in der Geschichte der fünften Republik ausbrachen.
Auch Yamina und ihre Familie landeten in so einem Betonregal, drei Zimmer für neun Personen. Slimane versuchte, was er konnte, mit 55 begann er, in einer Gipsfabrik zu arbeiten, eine schwere Arbeit, die ihm den Rest gab. Eine Möglichkeit, sich weiterzubilden, gab man ihm nie. Yamina mochte ihren Mann, der 1989 starb, obwohl ihre Eltern ihn ihr als Bräutigam ausgesucht hatten. "Heiraten", sagt die 86-jährige Yamina heute, "ist Glückssache in Algerien, entweder bekommst du einen guten oder einen bösen Mann." Und, fragt die Reporterin, war Slimane ein guter oder ein böser Mann?" - "Er war mein Cousin." - "Und die Liebe?" - "Die Liebe kommt später."
Slimane lebte in Frankreich, schaute erschreckt auf die moderne Gesellschaft, die ihm keiner erklärte, und machte, aus Überforderung vielleicht - denn er war, sagt seine Tochter, kein böser Mensch -, alles so, wie es seine Vorfahren in Algerien taten: Ließ seine Frau kaum aus dem Haus, verheiratete seine Tochter mit einem Mann, der aus dem gleichen Dorf kam. Sie habe Glück gehabt, sagt Aicha. Einen Mann bekommen, der sanft sei und sie verwöhnen möchte. Aber auch sein Geld reichte nicht, deswegen musste Aicha putzen gehen, morgens um halb drei, am Flughafen Orly. Mit Mühe haben die beiden sich ein kleines Haus erspart - weil er nicht wollte, dass seine Kinder in den Strudel der Banlieue-Banden geraten.
Jetzt sitzen sie da in diesem Haus, das mit einer braunen Schrankwand eingerichtet ist und Sitzgruppen im Louis-Toujours-Stil, die wie eine böse Ironie hier stehen, ein Gruß aus dem Baumarkt-Versailles an die vergessenen Arbeiter im Keller der Nation. Man sieht zwei Menschen, die hart gearbeitet haben, die Gewalt fürchten, die gläubig, aber nicht radikal sind - und man ist kurz davor, die ganze Familie richtig sympathisch zu finden.
Und dann kommt die Geschichte der Tochter. Sie heißt, wie die Großmutter, Yamina, ist das einzige Mädchen unter drei Brüdern und heute knapp zwanzig Jahre alt. Sie durfte den Führerschein machen und studieren - und wurde vor einem Jahr mit Ali, dem Sohn von Verwandten, verheiratet. Im Jahr 2006. Wie ihre Großmutter. Sie sei schockiert gewesen, sagt Yamina, als sie aus der Schule kam und ihre Mutter ihr eröffnete, dass ein Cousin, den sie nie gesehen hatte, um ihre Hand anhalte; dass ihre Mutter, die scheinbar moderne, emanzipierte Franco-Algerierin der zweiten Generation, ihr dringend zu dieser Hochzeit riet. Sie wollte, sagt Yamina, für die Familienehre geradestehen. Sie heiratete Ali. Sie wurde, vor der Hochzeit, ärztlich untersucht, ob sie Jungfrau sei. Ihre Schwiegereltern ließen sich das Bettlaken des jungen Paares vorführen, und wenn sie mit ihrer besten Freundin ausgehen wollte, dann musste sie ihren Mann um Erlaubnis fragen.
Solche Geschichten bleiben normalerweise unter Verschluss, und das macht diesen Film so außergewöhnlich: Evelyn Schels, die Autorin, hat monatelang recherchiert, sie hat an Orten gedreht, die nicht mal die Polizei gern betritt, sie hat mit Menschen geredet, die den Fernsehzuschauern sonst nur in Handschellen vorgeführt werden; sie hat das Vertrauen von Leuten gewonnen, die sonst niemandem mehr vertrauen, und sie hat all das in präzisen, ruhigen Bildern festgehalten, die so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Man ahnt, dass, hätte man diesen Menschen eine ordentliche Bildung ermöglicht und wirkliche Aufstiegschancen gegeben, sie vielleicht andere Erfahrungen gemacht und problematische Traditionen kritischer gesehen hätten. Denn, das zeigt dieser Film sehr deutlich, die Verheiratung der Kinder ist oft gar nicht mal das Ergebnis einer tiefsitzenden weltanschaulichen Verbohrtheit angeblich uneinsichtiger Radikaler, sondern folgt ökonomischen Überlegungen: Die fatale Hoffnung, die Tochter sei nach einer frühen Heirat gut "versorgt", wiegt offenbar bei Menschen wie Aicha, die als Putzfrauen um die Grundversorgung ihrer Kinder kämpfen, schwerer als die Erkenntnis, was man der Tochter so antut. Immerhin hat sich die junge Yamina von ihrem Mann nach ein paar Monaten getrennt; immerhin hat ihre Familie sie dabei unterstützt.
Man sieht klar den Mechanismus einer Tragödie und einen Teufelskreis, den die verfehlte, bloß auf die Ausbeutung billiger Arbeitskraft ausgerichtete Immigrationspolitik zu verantworten hat: Weil die Eltern für ihre Arbeit nur Dumpinglöhne bekommen und keiner für ihre Weiterbildung sorgt, müssen beide arbeiten, können sich nicht um die Kinder kümmern, die verwahrlosen und sich auf der Straße durchschlagen und Kinder bekommen, um die sie sich nicht kümmern können - und so weiter. Man sieht, dass ihnen niemand eine Chance zum Aufstieg gibt: Aichas Sohn ist dreiundzwanzig; sein Großvater Slimane hat sich bis zuletzt kaputtgemacht, seine Mutter hat nachts Treppenhäuser geputzt und Spritzen und Kot von den Stufen geräumt, damit die Kinder es einmal besser haben. Mohammed und seine Brüder konnten eine ordentliche Ausbildung machen, aber dann wollte sie keiner einstellen, weil die Betriebe ungern arabischstämmige Leute aus der Banlieue nehmen - und so landete Slimanes Enkel dort, wo schon sein Großvater seine Gesundheit ruinierte: in der Gipsfabrik.
Zum Schluss sieht man Aicha am Grab ihres Vaters in Ouled-Ali: Auch die Großmutter, sagt sie, wolle hier einmal beerdigt werden, in Algerien, nicht in Frankreich - und wenn man den Film gesehen hat, kann man das auch sehr gut verstehen.
"Und die Liebe kommt später", heute um 23 Uhr, Bayerisches Fernsehen.
Lau kuntu qatratan, kunti al-matr, lau kuntu nahran, kunti al-bahr, laukuntu l-qamar, kunti asch-schams, lau kuntu al-'alaam, kunti al-kaun.
| |