Vor 50 Jahren begann der «Guerre des Sables» genannte Krieg zwischen Algerien und Marokko. Er dauerte nur drei Wochen. Doch die Spannungen zwischen den Ländern dauern fort, die Grenzen sind seit 1994 geschlossen.
Beat Stauffer
Der algerische Überfall auf die kleine marokkanische Siedlung Hassi Beida am 8. Oktober 1963 und der anschliessende dreiwöchige Krieg sind eigentlich eine historische Randnotiz. Doch die «Guerre des Sables» war der Auftakt zu einer äusserst schwierigen, ja vergifteten Beziehung zwischen den beiden Ländern. Eine Auswirkung war 12 Jahre später die marokkanische Besetzung der Westsahara. Die bis heute anhaltende Schliessung der Landgrenzen zwischen den beiden Ländern hat zudem zu grossen wirtschaftlichen Verlusten für den Osten Marokkos und den Westen Algeriens geführt und zur gewaltsamen Trennung von Bevölkerungsgruppen, die vielfach durchmischt waren. Schliesslich ist aufgrund beidseitiger Propaganda, die mittlerweile ihren Niederschlag in Schulbüchern und in den Köpfen vieler Menschen gefunden hat, eine verzerrte Wahrnehmung der jeweiligen Nachbarn entstanden.
Dabei hätte alles ganz anders enden können. Eigentlich waren die Beziehungen eng. So war Abdelaziz Bouteflika, damals der blutjunge algerische Aussenminister, in der marokkanischen Stadt Oujda geboren worden. Auch der algerische Staatspräsident Ben Bella hatte marokkanische Wurzeln. Vor allem aber hatte Marokko den algerischen Befreiungskrieg tatkräftig unterstützt. Doch die von der französischen Kolonialmacht verfügte Grenzziehung zwischen dem damaligen Protektorat Marokko und der «Algérie française» sowie die unterschiedlichen politischen Auffassungen des marokkanischen Königs und des algerischen Präsidenten entwickelten schon bald eine politische Sprengkraft, welche diese positiven Faktoren wirkungslos machte.
Gegenseitiges Misstrauen
Das Problem der kolonialen Grenzen ist komplex und politisch und emotional aufgeladen. Vieles spricht aber dafür, dass die französische Grenzziehung zugunsten der «Algérie française» und zuungunsten des marokkanischen Sultanats vorgenommen wurde. Marokko sei der ganze östliche Landesteil von In Salah bis Tindouf amputiert worden, schreibt etwa der französische Historiker Bernard Lugan. Marokko hatte denn auch in der Folge die umstrittene Grenzziehung mehrfach angefochten. Im Jahr 1961 schloss König Hassan II. mit Ferhat Abbas, dem Präsidenten der provisorischen algerischen Regierung, einen Vertrag ab, wonach der Grenzkonflikt nach der Unabhängigkeit Algeriens gemeinsam zu lösen sei. Doch Präsident Ben Bella fühlte sich 1963 nicht an diesen Vertrag gebunden. Dies führte innert kürzester Zeit zu einer massiven Verschlechterung der Beziehungen. Allerdings trägt auch Marokko einen Teil der Schuld. Es waren vor allem die Pläne für ein «grossmarokkanisches Reich», welche die Unabhängigkeitspartei Istiqlal seit 1956 propagierte und die später auch vom Palast übernommen wurden, die den Nachbarn Algerien in höchstem Mass beunruhigten.
Vor allem aber waren die ideologischen Präferenzen unterschiedlich. Während sich Algeriens Präsident einem staatssozialistischen Gesellschaftsmodell verpflichtet fühlte und sich an den Vorbildern Nasser und Castro orientierte, entschied sich der marokkanische Monarch für ein marktwirtschaftlich-liberales Gesellschaftsmodell und für ein Mehrparteiensystem. Während Ben Bella die algerische Revolution exportieren wollte, kämpfte der innenpolitisch unter Druck stehende Hassan II. um seinen Thron. Die beiden Staatsführer trennte somit ein tiefer Graben, der durch gegenseitige Geringschätzung noch vergrössert wurde.
Wirtschaftlich fatal
Die «Guerre des Sables» war militärisch ein Erfolg für die marokkanische Seite, auch wenn dies in Algerien teilweise anders gesehen wird. Beobachter gehen davon aus, dass die noch junge algerische Armee durch diesen Krieg, der ein paar Dutzend Tote und Verletzte forderte, traumatisiert worden ist. Die politischen Folgen waren verheerend; eine Art kalter Krieg zwischen den beiden Ländern setzte ein, der in abgeschwächtem Ausmass bis heute anhält.
Die widerrechtliche Besetzung der Westsahara im Jahr 1975 führte zu einer weiteren Abkühlung des Verhältnisses. Algerien wies in der Folge im Dezember 1975 über 40 000 marokkanische Familien aus und konfiszierte deren Eigentum. Die «Eiszeit» zwischen Marokko und Algerien hatte aber auch direkte Folgen auf den Grenzverkehr und Warenaustausch. Die Landesgrenze in der Nähe der marokkanische Stadt Oujda war seit 1963 nur unter erschwerten Bedingungen passierbar. Nach den Anschlägen in einem Hotel in Marrakesch im Jahr 1994, bei dem zwei Touristen ums Leben kamen, wurde die Grenze gar völlig geschlossen. Damit wurde der wichtigste Grenzübergang zwischen den beiden Ländern blockiert. Dasselbe gilt für die Eisenbahnlinie, die Casablanca via Algerien mit Tunis verbindet.
Für den Osten Marokkos und in geringerem Ausmass auch für den Westen Algeriens ist diese Grenzschliessung eine Katastrophe. Ganze Gewerbezweige wurden lahmgelegt, die Arbeitslosigkeit stieg an, und Zehntausende von gut ausgebildeten Menschen zogen in die grossen Städte am Atlantik oder emigrierten ins Ausland. Umso stärker entwickelten sich Schwarzmarkt, Schmuggel und Schlepperwesen.
Halbherzige Annäherungen
Zwar versuchen sowohl die algerischen wie auch die marokkanischen Behörden von Zeit zur Zeit die Grenzkriminalität zu bekämpfen, allerdings mit eher bescheidenem Erfolg: Der Schmuggel von algerischem Erdöl nach Marokko und derjenige von marokkanischen Cannabisprodukten nach Algerien sind blühende Geschäftszweige. Algeriens Behörden werfen regelmässig dem Nachbarland vor, die Jugend mit Drogen zu gefährden. Seit einiger Zeit drehen die Marokkaner allerdings den Spiess um. Sie verweisen auf die aus Algerien stammenden roten Tabletten, Karkoubi genannt, die zu Hunderttausenden in Umlauf gebracht werden. Die Konsumenten dieser synthetischen Droge werden bei Entzug extrem aggressiv.
Mit dem Amtsantritt von König Mohammed VI. wurden Hoffnungen auf eine Verbesserung der Beziehungen geweckt. Zwar gab es in den vergangenen 14 Jahren kleinere Schritte in Richtung einer Versöhnung. Doch die Diplomaten konnten nie substanzielle Fortschritte erzielen; das ungelöste Westsahara-Problem scheint jeder Annäherung im Weg zu stehen. Beide Seiten pflegen ihr Feindbild. Dieses scheint dabei unter Politikern und Journalisten weit stärker verbreitet zu sein als in der Bevölkerung. Manche Beobachter meinen gar, das Volk würde sich ohne weiteres verstehen. Sie beziehen sich dabei etwa auf den spontanen Jubel der marokkanischen Fans bei einem Sieg der algerischen Fussballmannschaft, wie er kürzlich zu beobachten war. Ausserdem können sich weder Marokko noch Algerien diesen absurden Konflikt leisten. Dies gilt besonders für Marokko: Auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts schätzt der marokkanische Ökonom Fouad Abdelmoumni den Schaden der Grenzschliessung für sein Land.
Chronologie der «Guerre des Sables»
Im September 1963 nehmen die Spannungen an der Grenze zu, und es kommt zu kleineren Zwischenfällen sowie zu Razzien und Ausschaffungen auf beiden Seiten der Grenze. Am 5. Oktober 1963 treffen sich der algerische Aussenminister Abdelaziz Bouteflika und sein marokkanischer Amtskollege Ahmed Réda Guédira zu Verhandlungen. Obwohl weitere Verhandlungen auf den 10. Oktober angesetzt sind, greift Algerien am 8. Oktober an und provoziert damit einen militärischen Konflikt.
Marokko erlangt schon bald militärisch die Oberhand, und marokkanische Truppen stehen Tage später vor Oran. Doch Hassan II. befiehlt den Rückzug. Die Gründe für diesen Entscheid sind nicht völlig klar, da die Archive in beiden Ländern bis heute nicht zugänglich sind – und da eine offene Kritik an der Politik der erwähnten Staatsführer zumindest in Marokko nur schwer vorstellbar ist. Laut mehreren Quellen soll aber General de Gaulle den Monarchen zum Rückzug bewogen haben.
In der malischen Hauptstadt Bamako kommt es schliesslich am 29. Oktober 1963 zum Abkommen über einen Waffenstillstand, der tatsächlich am 4. November in Kraft tritt. Am 15. November 1963 versucht Marokko an einer Tagung der Organisation Afrikanischer Einheit erneut, die umstrittene Grenzziehung vertraglich neu zu regeln, doch der Plan scheitert.
Quelle: http://www.nzz.ch