Niemand ist natürlich: Pierre Bourdieu beobachtet die groben Unterschiede zwischen den Geschlechtern
Seit einigen Jahren scheint die Debatte über tatsächliche und vermeintliche Unterschiede im Verhalten der Geschlechter fest in der Hand der Genforscher und Neurobiologen, zumindest wenn man den deutschen Feuilletons Glauben schenken darf. Eine wohltuende Korrektur aus der Sicht des Soziologen und Ethnologen ist jetzt posthum von Pierre Bourdieu erschienen. Sieben Jahre mussten die Leser sich allerdings gedulden, bis die lange angekündigte deutsche Ausgabe seiner Schrift über «Die männliche Herrschaft» publiziert wurde.
Das Lebenswerk des 2002 verstorbenen Bourdieu zeichnet sich durch die Kontrastierung der Perspektiven aus: Er untersuchte die archaische Gesellschaft eines Berbervolkes in Algerien und analysierte dann mit ethnologisch geschultem Blick die akademische Welt Frankreichs und die «feinen Unterschiede», durch welche sich die Schichten und Milieus gegeneinander abgrenzen.
Auch sein Essay über die Funktion der männlichen Herrschaft lebt vom schnellen Wechsel des Blicks. Die Zuschreibungsverfahren der Berber in der Kabylei, die den häuslichen und öffentlichen Bereich, aber auch alle anderen Angelegenheiten des Lebens in die Opposition von männlich und weiblich einteilen, können von den Mitgliedern der hoch entwickelten Industriegesellschaft mühelos nachvollzogen und fortgeschrieben werden: hell/dunkel, weich/hart, innen/außen – wer könnte da nicht auf
Anhieb den einen Part dem weiblichen, den anderen dem männlichen Geschlecht zuordnen. Die ethnologische Beschreibung dieser entlegenen sozialen Welt funktioniert, so Bourdieu, «wie eine Art Detektor noch so schwacher Spuren und unzusammenhängender Bruchstücke» androzentrischer (männerzentrierter) Weltsicht. Sie kann, da hier der nötige Abstand zum Gegenstand der Forschung gesichert ist, dazu dienen, eine «historische Archäologie des Unbewußten» zu erstellen.
Ein zynisches Raster
Unbewusste, aber historisch erworbene Wahrnehmungsschemata, die in einem «ganz alten und archaischen Zustand unserer Gesellschaft konstruiert wurden», prägen Mann und Frau von heute noch immer. Tief in den Körper eingedrungen sind die Muster, welche die soziale Ungleichheit zwischen Mann und Frau begründen und aufrechterhalten. Bourdieu legt überzeugend dar, dass diese Muster nicht natürlich sind, sondern historisch bedingt. Sie sind das Ergebnis kontinuierlicher sozialer Arbeitsleistungen.
Die erkenntnistheoretische Schwierigkeit (man könnte aber auch sagen: der Zynismus) besteht darin, dass Männer wie Frauen Denkschemata anwenden, welche die soziale Welt erzeugt – die dann als natürlich und gegeben erscheint. «Es ist die Besonderheit der Herrschenden, daß sie in der Lage sind, ihrer besonderen Seinsweise die Anerkennung zu verschaffen, die Seinsweise schlechthin zu sein», analysiert der Soziologe pointiert.
Es ist weniger die bewusste Willensanstrengung, die zu Veränderungen führt, als vielmehr – die Frauenbewegung der siebziger Jahre wusste das noch – der Umgang mit dem Körper: Die Körperbilder sollten sich ändern. Ein Blick auf die sexualisierte Werbung und das Straßenbild zeigt, wie weit wir uns von diesen Einsichten entfernt haben.
Sehr bedenkenswert sind Bourdieus Überlegungen zum Berufsleben. Zwar haben sich die Möglichkeiten für Frauen in westlichen Gesellschaften immens erweitert, die Strukturen sind dennoch erhalten geblieben. Männer definieren ihre Männlichkeit nach wie vor über die Abgrenzung zu denjenigen Eigenschaften, die sie als weiblich abwerten. Deshalb dient eine Verteidigung männlicher Bastionen im Beruf auch als Bestätigung der eigenen Männlichkeit. Wie hoch oder niedrig der Frauenanteil in einem Beruf ist, gibt Aufschluss darüber, ob das Ansehen dieses Berufes im Sinken oder im Steigen begriffen ist.
Das Journal
Männliche Muster überall
Irreführend ist allerdings die Bemerkung, mit der auf dem Umschlag des Buches um die deutsche Leserschaft geworben wird: «Ein Mann beschäftigt sich mit der Ungleichheit der Geschlechter. Doch der Soziologe Pierre Bourdieu tut dies nicht, um den Feminismus unter männliche Dominanz zu bringen, sondern um zu zeigen, daß männliche Herrschaft eine besondere, politisch wie ökonomisch wichtige Form symbolischer Herrschaft darstellt.»
Tatsächlich geht es Bourdieu weniger darum, die politische wie ökonomische Bedeutung der männlichen Herrschaft darzulegen. Vielmehr zieht er gegen Ende seines Lebens eine eindrucksvolle Bilanz, die gerade für die Überwindung männlicher Herrschaftsformen eintritt. Sie sind, so betont er unermüdlich, nicht natürlich oder biologisch bedingt, sondern das Produkt eines langlebigen geschichtlichen Prozesses, der noch immer andauert.
Pierre Bourdieu
Die männliche Herrschaft
Aus dem Französischen von Jürgen Bolder.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005. 211 S., 19,90 €
Aus:
http://www.kultiversum.d